Die Technik des Zersetzens wurde vom Ministerium für Staatssicherheit angewandt, um Oppositionelle in der DDR zu bekämpfen und zu verfolgen. Die DDR-Führung wollte keine zu vollen Gefängnisse haben, schließlich strebte sie nach internationaler Anerkennung als unabhängiger demokratischer Staat. Deshalb griff man innerhalb des Staatssicherheitsapparates zur effektiven und nach außen unsichtbaren Form der „operativen Psychologie“. Die Stasi unterwanderte oppositionelle Gruppen, verbreitete gezielt Lügen und Falschinformationen über einzelne Mitglieder der oppositionellen Gruppen und zerstörte Karrieren, Freundschaften und Familien. Die geheimen Maßnahmen der Stasi wurden von den hauptamtlichen Mitarbeitern ausgearbeitet und teilweise über inoffizielle Mitarbeiter (IM) umgesetzt. An der juristischen Hochschule in Potsdam entstanden in den 1970er und 80er Jahren einige Doktorarbeiten zu diesem Thema. Dort wurde auf wissenschaftlicher Basis erarbeitet, wie man einen Menschen sozial und emotional zerstört. Die Psychologie diente dabei als Grundlage. Daher der Begriff „operative Psychologie“. Allerdings wurden psychologische Grundlagen nicht angewandt um Menschen zu helfen, sondern um sie zu zerstören.
So bestand das Ziel in der „Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich-negativer Kräfte, um dadurch feindlich-negative Handlungen einschließlich deren Auswirkungen vorbeugend zu verhindern, wesentlich einzuschränken oder gänzlich zu unterbinden (…..)“.
„Systematisch sollten Zersetzungsmaßnahmen das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl eines Menschen untergraben, Angst, Panik, Verwirrung erzeugen, einen Verlust an Liebe und Geborgenheit hervorrufen sowie Enttäuschungen schüren also all solche Gefühle, die einen Menschen unglücklich und unzufrieden machen.“
Die Zersetzungsmaßnahmen waren so angelegt, dass die Stasi nicht als deren Urheber zu erkennen sein sollte. „Die Zersetzung war eine Repressionsmethode, die sich neben der strafrechtlichen Verfolgung abspielte und von ihr zu unterscheiden ist. Das erste wesentliche Charakteristikum der Zersetzung war ihre Anonymität. Die Zersetzungsaktivitäten waren subtil und durften öffentlich nicht als Verfolgungsmaßnahmen des MfS erkennbar sein.“
Die Stasi schreckte auch nicht davor zurück, in die Wohnungen der Verfolgten einzubrechen. „MfS-Mitarbeiter drangen zum Beispiel mit Nachschlüsseln in die Wohnung eines ihrer Opfer ein, um dort Gegenstände neu zu sortieren. Einmal verhängten sie Bilder in der Wohnung von Frau R. Beim nächsten heimlichen Einbruch verstellten sie nur die Gewürzdosen in der Küche. Ein anderes Mal tauschten sie den Lieblingstee der Frau durch eine andere Sorte aus. Die Mitarbeiter kamen wieder und wieder. Sie ließen sich jeweils etwas Neues einfallen. So hängten sie auch die Handtücher in dem Badezimmer von Frau R. ab und ordneten die Blumentöpfe auf ihren Fensterbänken neu. Als Frau R. Ihren Freunden von den Vorgängen in ihrer Wohnung erzählte, glaubten sie ihr nicht.“
Die Zersetzungsmethoden wurden in der „Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung operativer Vorgänge“ erstmals normiert. In ihr wurde festgelegt, wie mit Oppositionellen umgegangen werden sollte. Zu den Maßnahmen zählte „systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges (…). Systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen. (…) Erzeugen von Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen durch zielgerichtete Ausnutzung persönlicher Schwächen einzelner Mitglieder.“
Die Zersetzungsmethoden wurden immer wieder neu und auf die persönliche Situation der Zielperson abgestimmt. Das MfS streute Gerüchte unter Oppositionellengruppen, einzelne Mitglieder würden für die Staatssicherheit arbeiten. Dadurch sollte Misstrauen und Anfeindung unter den Mitgliedern der Gruppen erzeugt werden, was wiederum oft zur Spaltung und Auflösung von Gruppen führte. Die Zielpersonen der Staatssicherheit wurden an ihren Arbeitsplätzen, in ihrem privaten Umfeld und innerhalb ihrer Familien durch Rufmord diskreditiert. Dadurch sollte soziale Isolation erreicht werden. Die betroffenen Menschen sollten von ihrem Umfeld entfremdet werden. Dies traf auch auf eigene Kinder bzw. Eltern zu. Kinder Betroffener wurden oft wegen angeblicher „Vergehen“ ihrer Eltern benachteiligt. Ein Studium oder eine entsprechend höher qualifizierte Tätigkeit im SED-Staat wurde den Betroffenen systematisch verweigert. Sie mussten sich meist mit wenig qualifizierten Hilfsarbeitstätigkeiten abfinden.
Die Agenten des MfS schreckten auch nicht davor zurück Liebesbeziehungen und Ehen zu zerstören. Durch streuen falscher Gerüchte, gefälschte Liebesbriefe, Anrufen von angeblichen Liebschaften usw. versuchten die „Tschekisten“ Beziehungen zu zerstören. Andererseits versuchten sie auch, Oppositionelle in Bindungen mit MfS-Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zu manövrieren. Die männlichen und weiblichen „Romeos“ schreckten auch nicht davor zurück, die entsprechenden Personen zu heiraten. So manche Ehe wurde vom MfS organisiert und hielt jahrelang. Die betroffenen Opfer müssen damit leben, dass sie jahrelang mit einem Spion zusammengelebt haben.
In manchen Fällen wurden gefälschte ärztliche Gutachten eingesetzt, um Oppositionelle eine sie schädigende medizinische Behandlung zukommen zu lassen oder um andere dem MfS nützliche Ziele zu erreichen. Das reichte von Verhinderung einer Invalidisierung bis zu angeblich notwendigen Operationen. Diese sollten natürlich von entsprechenden IM-Ärzten durchgeführt werden.
Eine weitere beliebte Zersetzungsmaßnahme war das Zerstören von persönlichen Eigentum der Betroffenen. MfS Mitarbeiter zerkratzten Autos, kippten Zucker in Tanks oder zerstachen Auto- und Fahrradreifen. In einem Fall organisierte das MfS den Abriss des Hauses eines Oppositionellen, der gerade wegen Wehrdienstverweigerung im Gefängnis saß.
Durch Kriminalisierung der Betroffenen sollte weitere Ausgrenzung aus der Gesellschaft erfolgen. MfS Mitarbeiter streuten Gerüchte, die Betroffenen seien Kinderschänder, Vergewaltiger, Diebe oder Betrüger. Das MfS blieb bei diesen Aktionen meist im Hintergrund verborgen. „Es setzten immer andere Institutionen die Kriminalisierung um, wie die Volks- und Kriminalpolizei, so dass die Betroffenen nicht differenzieren konnten, wer der wirkliche Urheber der Sanktionen war.“
Das vorliegende Buch zeigt die schier endlose Kreativität des MfS bei der Entwicklung von schwer schädigenden Maßnahmen, um oppositionelle Menschen sozial, psychisch und physisch zu zerstören. Es sollte von allen Menschen gelesen werden, die selbst in politischen Zusammenhängen aktiv sind. Es hilft dabei, die teuflischen Tricks der Geheimdienste zu verstehen, die damals und heute gegen Menschen eingesetzt werden. Auch wenn es die DDR und die Stasi seit 30 Jahren nicht mehr gibt, sind deren Zersetzungsmaßnahmen auch heute noch aktuell. Die Stasi war nicht der einzige Geheimdienst, der Zersetzung gegen seine Bürger und Bürgerinnen einsetzte. Auch westliche Dienste nutzen diese Methoden bis heute und entwickeln sie weiter. Die tausenden Fälle der Targeted Individuals weltweit zeigen, dass die Zersetzung bis heute immer noch angewandt wird und ihre teuflische Wirkung ausübt.